Es war einmal ein Wald. Der war so groß und weit, sodass ihn das Auge nicht überschauen konnte. Hügel und Gebirge, über die er sich erstrecken konnte, gab es nicht. Man könnte meinen, er ruhte auf einer weiten Ebene. Aber bei genauerer Betrachtung würde man entdecken, dass sich sehr wohl Erhebungen im Wald befinden. Und würde ich jetzt anfangen über diese Erhebungen zu sprechen, müsste ich jetzt doch etwas Mystisches berühren, etwas Geheimnisvolles, das sich der normale Verstand nicht erklären könnte.
Die ganze weite Welt ist mit den Bäumen des Waldes bedeckt. Lichtungen gibt es nicht. Aber es scheint, auch wenn es für das Auge unscharf wird, dass sich einer bestimmten Richtung hin der dichte Baumbestand doch etwas lockerer zeigt.
Wenn man an unscharf denkt, so stellt man sich gleich etwas Dunstiges, Nebeliges vor. Vielleicht sogar etwas ins Dunkel Fallendes. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Verfolgt man den Wald in die angedeutete Richtung, so wird es heller. So hell, dass sich die Konturen ins Weiß verlieren und man bald gar nichts mehr sieht.
Die Dunkelheit ist in der entgegengesetzten Richtung. Dort, wo die Bäume am dichtesten stehen.
Und das eigenartige ist, dass sich eine Ahnung, wie ein Gefühl ergibt, wenn man mit seinem Lebenssinn in die Erhebungen eintaucht und ihre Kraft und ihr Wesen von Innen erlebt, dass da eine sanfte, aber bestimmte Lebensmacht herrscht, die einen in eine bestimmte Richtung zieht. Aber gleichzeitig auch drängt ihr zu folgen.
Die Bäume der Dunkelheit sind fest und konturiert. Die Wurzeln hart und knorrig. Die Borke der Stämme in dunkelbrauner Farbe und wie abgehärtet ohne viel Atem in die Umgebung. Die Äste und Zweige sind spitz, unnachgiebig und bestimmt in ihre vorgegebene Richtung zu wachsen und alles auf die Seite zu drängen was ihnen im Wege liegt. So herrscht ein ständiger Kampf unter den Bäumen einer Nachbarschaft. Aber je mehr Zeit vergeht, desto mächtiger und gewaltiger werden sie. Aber desto weniger Luft zum Atmen und Freiraum dazwischen gibt es. Trotz Feindschaft gegeneinander wachsen doch alle unaufhaltsam immer enger aufeinander zu und enger zusammen, sodass es erkennbar ist, dass sie bald eine einzig schwere Masse bilden werden, wie ein unendlicher Wall verhärteter Materie. Dass diese Bäume keine Blätter und kein Laub tragen, brauche ich gar nicht zu erwähnen, denn Licht hat der Erdboden dieser Region des Waldes schon lange nicht mehr gesehen.
Aber zurück zu den Erscheinungen der Mitte. Hier sind die Bäume viel lebendiger. Abstand ist da zwischen den Bäumen. Auch lichtes Grün, das so hell und besonders funkelt, wenn man die Sonne durch es hindurch, dahinter schaut. Luft und Atem ist da, und wenn man genau hinhört, dann ist auch seidenzartes, süßes Zwitschern von Vögeln, die so besonders sind, dass sie noch nie ein Auge gesehen hat, bemerkbar. Habe ich schon gesagt, dass die Wurzeln der Bäume klares, kühles Wasser umströmt? In kleinen Bächlein zieht es durch die Ebene und versorgt jeden Baum mit Nährstoffen. In der Dunkelheit gibt es auch Wasser, aber dort ist es warm, steht und bewegt sich nicht. Formt größere Wasserflächen, die stinkend und modrig schier endlose Sümpfe bilden, wo Gewürm und Insekten schwirrend und schwelend die ohnehin schon bedrängte Luft noch dicker machen.
Die Wässer der Mitte aber haben eine Richtung. Auch wenn sie ungeordnet zu sein scheinen und eher ein helles, weit gefächertes Netzwerk durch die Reihen der Bäume zu bilden scheinen – hätte man die Möglichkeit einen größeren Teil dieses Waldes zu durchschauen, so würde man finden, dass alle Bächlein weg fließen. Weg von einem Zentrum in die Peripherie hinaus. Aber ein Zentrum, das dem Blick durch die eingangs geschilderte Helligkeit völlig unbekannt bleibt. Und so groß und weit auch diese Helligkeit die Landschaft verschleiert, so groß und mächtig muss das Zentrum vorgestellt werden.
Und jetzt darf das Mystische und Geheimnisvolle der Erhebungen des Bodens etwas angedeutet sein: auch wenn die Erhebungen sich lebendig winden, mal hierhin mal dorthin erstrecken, auch sie streben, verfolgt man ihren Gang, weg vom Zentrum. Doch sie versinken im Boden noch bevor sie die Peripherie erreichen.
Die Wässer der Mitte tauchen nicht unter. Auf dem Weg in die Peripherie, verlieren sie ihre Frische, ihre Helle und ihre Spannkraft. Sie werden schlaff und trüb und gehen bald in die Sümpfe der Bäume der Dunkelheit über.
Und verfolgt man diese Richtung, vom Zentrum zur Peripherie, so bemerkt man, dass die Bäume der Mitte, die frisch und beweglich sind, deren Borke hellbraun und atmend ist, deren Zweige sich in Luft und Licht der Sonne freudig bewegen auf dem Weg nach außen, im Dunkel der Sümpfe, ihre Frische und Lebendigkeit genau so einbüßen, wie das Wasser. Die Borke wird fester, die Wurzeln härter, die Zweige spitzer und blattloser.
Es ist ein trauriger Gang in die Verfestigung des Lebens und gleichzeitig immer weiter weg aus dem Zentrum, von wo das Leben zu kommen scheint.
Was ist dort? Was ist das Leben und woher kommt es? Wie gern hätte ich ein Auge um die Helligkeit zu unterscheiden und Wesen und Leben zu entdecken!
Sinnend unter einem besonders herzlichen Baum der Mitte, schauend und lebend in dem goldig-grünen Licht, das durch seine Blätter zu mir herunter scheint werde ich etwas gewahr:
Ein leises Rauschen und Raunen. Etwas was ich vorher noch gar nicht bemerkt hatte – ich war ja nur auf die Frische und Lebendigkeit der Wesen gerichtet – aber jetzt fällt mir auf, dass hier auch Tod und Sterben vorliegt. Es gibt hier abgestorbenes Holz, welke Blätter, gebrochene Äste und freiliegende Wurzeln. Aber sie sind alle eingebettet in den Rhythmus des Lebens. Ich sehe Pflanzen aufwachsen und alte Bäume absterben. Ein Wandel von Werden und Vergehen.
Und wie ein Wind der rufend durch die Baumwipfel weht und auch meinen Geist erfasst richtet meinen Blick zur Mitte, zum Zentrum, das mir vorher bleich und blind erschien.
Ich bin ganz entrückt und wie von Sinnen und rings um mich verlangsamt sich die Zeit bis fast zur vollständigen Ruhe. Und ein tiefer Gong ertönt und eine Vielfalt von Harmonien, die sphärenartig vom Zentrum ausstrahlen erfasst mein Herz, tönt in meinem Innern und wird in mir zu Rufern die, deutend auf die Weiten der Welt, raunen: Schau den Weltengang, den Fortlauf der Zeit, den Wandel der Äonen!“
Und das ganze Werden und Vergehen der Pflanzen und der Bäume gießt sich zusammen in ein einziges Geschehen ausgebreitet im Raum.
Hinabbewegend, Nähe und Erleben der Welt wünschend, bin ich wieder in dem Wald. Aber alles ist anders. Die Bäume sind durchsichtig, wie aus zähem Honig. Und bewegen sich langsam dem Zentrum zu.
Und da werde ich gewahr, dass ein riesiger goldener Baum aus Licht und Wärme im Zentrum auf einem mächtigen Berg steht. Seine Wurzeln sendet er weit in die Landschaft hinaus und zwischen seinen Ästen fliessen die Wasser des Lebens herunter.
Lange nach diesem Erlebnis. Kehre ich alt und grau zu dem Wald, zu den Bäumen zurück. Sie sind alle um einen Schritt dem Berg in der Mitte näher gekommen. Ich gehe näher an einen Baum heran. Hinter ihm liegt ein toter alter Stumpf. An ihm, auf einem Ast, der sich am weitesten dem Zentrum hingestreckt hat hängt eine Frucht. Die einzige, die der Baum in seinem Leben hervorgebracht hat. Ich sehe sie fallen. Der Baum stirbt ab. Aber aus dem Boden, wo die Frucht hernieder fällt wächst ein kleiner Keim empor.
Jetzt könntest du fragen: aber wenn alle Bäume dem Zentrum zugehen, so finden sie doch keinen Platz in der Mitte und stoßen sich gegenseitig weg, sodass schlussendlich keiner ganz das Ziel erreicht?
Demgegenüber muss ich dir sagen: schau nur genau hin, verdunkle dir die Helligkeit zur Farbe und du wirst sehen, dass genau so, wie sich die Bäume zur Dunkelheit hin verhärten, sie zur Helligkeit hin immer feiner werden. Die Substanz vergeistigt sich, sodass ohne Aufgabe ihrer Form, sich doch Stück für Stück die Baumleiber ineinander schieben. Und je weiter sie kommen, schlussendlich jeder Baum im Zentrum mit dem Baum auf dem Berg eins werden muss.